Von Gregor Samimi, Rechtanwalt in Berlin, zuletzt aktualisiert am 09.12.2025, 21:00 Uhr, 8 Minuten Lesezeit. 1229 Wörter.
Die strafrechtliche Bewertung von Online-Äußerungen steht seit Jahren im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und den Tatbeständen der §§ 130, 166 StGB. Entscheidungen zur Volksverhetzung werfen dabei regelmäßig grundlegende Fragen der Auslegung, der verfassungsrechtlichen Einordnung und der tatrichterlichen Begründungsanforderungen auf. Ein aktueller Beschluss des Kammergerichts in Berlin vom 20. November 2025 (Az. 5 ORs 51/25) greift diese Problematik eindrücklich auf. Er hebt ein Urteil des Landgerichts Berlin vollständig auf, nachdem einem Angeklagten vorgeworfen worden war, durch mehrere Beiträge in sozialen Netzwerken Volksverhetzung sowie die Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft begangen zu haben. Der Beschluss verdient besondere Beachtung, weil das Kammergericht zentrale Anforderungen an die tatrichterliche Feststellung, Auslegung und rechtliche Würdigung von Äußerungen im digitalen Raum herausarbeitet und die Maßstäbe für die Prüfung der Eignung zur Friedensstörung und des subjektiven Tatbestands klar konturiert.
Inhaltsverzeichnis
- Sachverhalt und Vorwurf
- Die tragenden Gründe der Aufhebung
- Unklare Bestimmung der strafrechtlich relevanten Äußerungen
- Fehlerhafte oder unzureichende Auslegung der Äußerungen
- Fehlende Feststellungen zur „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“
- Unzureichende Feststellungen zum subjektiven Tatbestand
- Bedeutung der Entscheidung
- FAQS zum Beschluss des Kammergerichts in Berlin vom 20.11.2025 – Az. 5 ORS 51/25
- 1. Worum ging es in dem Strafverfahren?
- 2. Was hatte das Landgericht Berlin entschieden?
- 3. Warum hat das Kammergericht das Urteil aufgehoben?
- 4. Welche Bedeutung hat die Auslegung der Äußerungen für die Strafbarkeit?
- 5. Was bedeutet „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“ und warum war das wichtig?
- 6. Welche Anforderungen stellt das Kammergericht an den subjektiven Tatbestand?
- 7. Warum wurde auch die Verurteilung nach § 166 StGB aufgehoben?
- 8. Was bedeutet die Entscheidung für das weitere Verfahren?
- 9. Welche Bedeutung hat der Beschluss über den Einzelfall hinaus?
- 10. Was können Strafverteidiger aus dem Beschluss ableiten?
- Weiteres Urteil zur Volksverhetzung
Sachverhalt und Vorwurf
Dem Angeklagten wurden mehrere Online-Posts zur Last gelegt, die sich kritisch bis polemisch mit dem Islam, muslimischen Flüchtlingen und der deutschen Asylpolitik auseinandersetzten. Das Landgericht Berlin sah in zwei dieser Äußerungen den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB), teils in Tateinheit mit § 166 Abs. 2 StGB, als erfüllt an und verurteilte den Angeklagten zu einer Geldstrafe. Gegen dieses Urteil wurde Revision eingelegt – mit Erfolg.
Die tragenden Gründe der Aufhebung
Das Kammergericht stellt in seiner Entscheidung umfangreiche Rechtsfehler fest, die die tatrichterlichen Feststellungen in wesentlichen Punkten als unzureichend erscheinen lassen. Die zentralen Beanstandungen lassen sich in vier Kernbereichen zusammenfassen:
Unklare Bestimmung der strafrechtlich relevanten Äußerungen
Das Landgericht hatte nicht eindeutig herausgearbeitet, welche konkreten Passagen der Online-Beiträge als strafbar eingestuft wurden. Aus dem Urteil ließ sich weder klar entnehmen, ob einzelne Textbausteine oder der Beitrag in seiner Gesamtheit bewertet wurden, noch wie das Gericht die jeweiligen Aussagen sprachlich und inhaltlich verstanden hat. Damit fehlte die notwendige Grundlage für jede strafrechtliche Subsumtion.
Fehlerhafte oder unzureichende Auslegung der Äußerungen
Nach den Maßstäben der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind Äußerungen stets objektiv, mehrdeutigkeitsfreundlich und kontextbezogen auszulegen.
Das Kammergericht beanstandet, dass das Landgericht Berlin:
- nicht zwischen Tatsachenbehauptung, Werturteil oder tatsachenhaltigem Werturteil unterschied,
- mögliche alternative Deutungen nicht prüfte,
- Aussagen verschiedener Textteile vermischte,
- die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung mit Art. 5 Abs. 1 GG nicht vorgenommen hatte.
Die tatrichterliche Auslegung sei damit methodisch fehlerhaft und revisionsrechtlich nicht tragfähig.
Fehlende Feststellungen zur „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“
Das Kammergericht hebt hervor, dass die Eignung zur Friedensstörung als eigenständiges Tatbestandsmerkmal festzustellen ist. Dies war nicht geschehen.
Das Landgericht hatte lediglich schlagwortartig formuliert, die Äußerungen hätten „Ängste geschürt“ – ohne die gebotene Gesamtwürdigung zu den maßgeblichen Kriterien, etwa:
- Reichweite und Wirkung der Äußerung,
- Art der Plattform und möglicher Empfängerkreis,
- gesellschaftliches Umfeld und politisches Klima,
- konkrete Gefährlichkeit der Aussage.
Diese Anforderungen waren nicht erfüllt.
Unzureichende Feststellungen zum subjektiven Tatbestand
Insbesondere bemängelt das Kammergericht:
- fehlende Differenzierung der erforderlichen Vorsatzformen je nach Tatbestandsalternative,
- keine tragfähige Begründung, ob der Angeklagte die Verletzung der Menschenwürde oder die Friedensstörung zumindest billigend in Kauf nahm,
- widersprüchliche oder nicht ausgeführte Bezüge zwischen Einlassung und Tathandlung.
Damit blieb offen, ob die erforderliche innere Tatseite überhaupt festgestellt worden war.
Bedeutung der Entscheidung
Der Beschluss des Kammergerichts ist über den Einzelfall hinaus von Bedeutung. Er schärft die Anforderungen an tatrichterliche Entscheidungen in Verfahren wegen Volksverhetzung und religiöser Beschimpfung – insbesondere im digitalen Raum, in dem Äußerungen schnell emotional, vielschichtig und kontextabhängig sind.
Die Entscheidung zeigt deutlich:
- Strafgerichte müssen die verfassungsrechtlichen Grenzen der Strafbarkeit von Meinungsäußerungen strikt beachten.
- Die Auslegung einer Äußerung ist methodisch sauber, mehrdeutigkeitsfreundlich und kontextsensitiv vorzunehmen.
- Die Feststellung der Friedensstörung ist kein Automatismus, sondern bedarf einer konkreten und tragfähigen Begründung.
- Auch subjektive Elemente des Tatbestandes sind differenziert und nachvollziehbar darzustellen.
Damit setzt der Beschluss ein weiteres wichtiges Signal für die rechtsstaatliche Kontrolle von Strafurteilen im Bereich digitaler Kommunikation.

FAQS zum Beschluss des Kammergerichts in Berlin vom 20.11.2025 – Az. 5 ORS 51/25
1. Worum ging es in dem Strafverfahren?
Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, durch mehrere Online-Posts Volksverhetzung nach § 130 StGB sowie die Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft nach § 166 StGB begangen zu haben. Die Beiträge enthielten stark wertende Aussagen über Muslime, den Islam und Flüchtlinge sowie politische Kritik.
2. Was hatte das Landgericht Berlin entschieden?
Das Landgericht verurteilte den Angeklagten in zwei Fällen wegen Volksverhetzung – teils in Tateinheit mit § 166 StGB – zu einer Gesamtgeldstrafe. Ein weiterer Anklagepunkt wurde fallen gelassen. Gegen diese Entscheidung legte der Angeklagte Revision ein.
3. Warum hat das Kammergericht das Urteil aufgehoben?
Das Kammergericht stellte erhebliche Rechtsfehler fest. Dazu gehörten insbesondere:
- unklare Feststellung, welche konkreten Äußerungen strafbar sein sollten,
- fehlende oder methodisch fehlerhafte Auslegung der Äußerungen,
- unzureichende Prüfung der Tatbestandsmerkmale der §§ 130 und 166 StGB,
- fehlende oder pauschale Feststellungen zur Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören,
- ungenügende Feststellungen zur inneren Tatseite (Vorsatz).
4. Welche Bedeutung hat die Auslegung der Äußerungen für die Strafbarkeit?
Die Auslegung ist entscheidend: Strafbaren Äußerungsdelikten muss zweifelsfrei zu entnehmen sein, was tatsächlich gesagt wurde und wie dies zu verstehen ist. Das Kammergericht betont, dass:
- der vollständige Kontext,
- der objektive Sinngehalt,
- mögliche Deutungsalternativen zu berücksichtigen sind.
Zudem ist stets die Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG einzubeziehen. Diese Auslegung hatte das Landgericht nicht methodisch korrekt vorgenommen.
5. Was bedeutet „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“ und warum war das wichtig?
Dieses Merkmal ist ein zentrales Tatbestandskriterium des § 130 StGB. Eine Äußerung ist nur strafbar, wenn sie konkret geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu beeinträchtigen – etwa durch:
- Herabsetzung von Gruppen,
- Erzeugung von Aggression oder Rechtsbruch,
- Einschüchterung Dritter.
Das Landgericht hatte jedoch lediglich Formulierungen wie „Ängste geschürt“ verwendet, ohne eine konkrete, nachvollziehbare Gesamtwürdigung vorzunehmen. Dies genügt dem Gesetz nicht.
6. Welche Anforderungen stellt das Kammergericht an den subjektiven Tatbestand?
Das Gericht fordert: präzise Feststellungen zur jeweiligen Vorsatzform,
- klare Begründung, ob der Täter die Folgen seiner Äußerung wenigstens billigend in Kauf nahm,
- Abgrenzung zwischen Absicht, direktem Vorsatz und Eventualvorsatz,
- Einbeziehung der Einlassungen des Angeklagten.
Diese Anforderungen waren im Urteil des Landgerichts nicht erfüllt.
7. Warum wurde auch die Verurteilung nach § 166 StGB aufgehoben?
Für eine strafbare Beschimpfung einer Religionsgesellschaft verlangt § 166 StGB u. a.:
- Feststellung, ob es sich um eine Religionsgesellschaft oder ein Bekenntnis handelt,
- restriktive Auslegung der Äußerung im Lichte der Meinungsfreiheit,
- konkrete Begründung einer Friedensstörung.
Das Landgericht hatte diese Schritte unzureichend durchgeführt oder vollständig ausgelassen.
8. Was bedeutet die Entscheidung für das weitere Verfahren?
Die Sache wird gemäß § 354 Abs. 2 StPO an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.
Dort muss der Fall komplett neu verhandelt und entschieden werden – allerdings auf Basis der vom Kammergericht geforderten Maßstäbe.
9. Welche Bedeutung hat der Beschluss über den Einzelfall hinaus?
Der Beschluss ist richtungsweisend, weil er:
- die Anforderungen an die strafrechtliche Bewertung von Online-Äußerungen schärft,
- die Bedeutung einer sorgfältigen Deutung und Kontextualisierung unterstreicht,
- den Stellenwert der Meinungsfreiheit betont,
- die Pflicht der Gerichte zu einer inhaltlich fundierten und methodisch sauberen Prüfung hervorhebt.
Damit fügt er sich in die ständige Rechtsprechung zu restriktiven Anwendung von Äußerungsdelikten ein.
10. Was können Strafverteidiger aus dem Beschluss ableiten?
Verteidiger sollten besonders achten auf:
- präzise Feststellung des Wortlauts der Äußerung,
- methodisch korrekte Auslegung nach objektivem Maßstab,
- Prüfung aller Tatbestandsvarianten,
- Anforderungen an Friedensstörung und Vorsatz,
- verfassungsrechtliche Vorgaben des Art. 5 GG.
Der Beschluss bietet zudem eine hilfreiche Argumentationsgrundlage für künftige Verfahren zu § 130 und § 166 StGB.
Weiteres Urteil zur Volksverhetzung
Kammergericht, Urteil vom 12.05.2022, Aktenzeichen: (578) 231 Js 2702/21 Ns (28/22): https://www.ra-samimi.de/volksverhetzung-angeklagter-vom-vorwurf-der-volksverhetzung-freigesprochen/
Rechtsanwalt Gregor Samimi ist Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für Verkehrsrecht sowie Fachanwalt für Versicherungsrecht in Berlin.